Rand und Band
Mittwoch, 21. Oktober 2020

Tektologie

Alexander Bogdanov lebte von 1873 bis 1928, war russischer Arzt, Philosoph und Autor. Wie viele Intellektuelle seiner Zeit befasste er sich eingehend mit dem Marxismus. Im Anti-Dühring würdigte Engels den Hegelschen Satz, dass Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit sei. Was bleibt aber von der Freiheit, wenn notwendige Anpassungsleistungen durch die Art der gesellschaftlichen Organisation zu einer zivilisatorischen Abwärtsspirale führen? Bogdanov nahm sich dieser Frage an und entwickelte dazu unter dem Namen „Tektologie“ einen Ansatz, mit dem sich überhaupt erst eine Gesellschaft als organisiertes System interagierender Elemente, die emergent sind, beschreiben lässt, das heißt, zusammen mehr ergeben als die Summe ihrer Teile.

Systemtheorie

Die Tektologie gilt als Vorläufer der Systemtheorie, die sich mit den Austauschbeziehungen von Systemen (organisatorische Einheiten) mit ihrer Umwelt (die Natur oder andere Systeme) beschäftigt. Und was tauschen Systeme mit ihrer Umwelt aus? Die Systemtheorie hat dafür einen Begriff aus der Thermodynamik übernommen: Systeme tauschen mit ihrer Umwelt Entropie aus. Entropie ist ein Maß für die Ungeordnetheit, Zufälligkeit und Desorganisiertheit. Im Zustand maximaler Entropie ist ein System vollständig zerfallen. Das Gegenstück lautet Negentropie: das ist der energetisch aufwendige Zustand von Ordnung und Vorhersagbarkeit.

Systemischer Metabolismus

Die Tendenz jedes Systems ist, Entropie, also Unordnung an seine Umwelt abzustoßen und Negentropie, also seine strukturelle Stabilität, zu vergrößern. Es findet also ein permanenter Energiefluss zwischen Systemen statt, wobei die Entropie insgesamt zunimmt – kein System währt ewig. Dieser Energiefluss, auch Metabolismus genannt, ist je nach Art der systemischen Organisation mehr oder weniger günstig für die Mitglieder einer Gesellschaft.

Freiheit und? oder? Notwendigkeit

Besteht der funktionelle Aufwand aus Alltagsaufgaben, etabliert ein System Verfahrensroutinen auf Grundlage von vermeintlichen Gewissheiten. Das ist systemtheoretisch gut erklärbar: Je erfolgreicher ein System in seiner metabolischen Konkurrenz mit anderen, desto größer ist seine Negentropie, das heißt desto stabiler ist es, aber auch umso festgelegter und institutionalisierter in seinen etablierten Verfahrensweisen.

Der 'proof of concept' ergibt sich erst in der Bewährung mit unvorhergesehenen Effekten. Das kann zum Beispiel passieren, wenn der (bislang exportierte) Entropiedruck auf ein Maß anwächst, der seinen Import erzwingt. Solche Effekte werden als Krisen wahrgenommen, weil sie die institutionalisierte Gewissheit eines Systems ins Wanken bringen. In hierarchisch organisierten Systemen mehren sich konkrete Abstiegsängste, die sich aber ohne das nötige Grundwissen über die zugrundeliegenden Funktionszusammenhänge irrational und chaotisch inszenieren - und ohne Aussicht auf systemische Alternative. Die betroffenen Systeme reagieren ihrerseits auf die Entropiezunahme mit freiheitseinschränkenden Maßnahmen und einer Ausweitung ihrer law-and-order Politik, um des Systemerhalts willen.

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