Rand und Band
Samstag, 12. November 2022

Aber es ist der Kapitalismus und nicht die angebliche Wokeness, was bekämpft werden muss. (Peter Nowak, www.heise.de, 22.11.2022)

Irgendwer oder -was übernimmt offenbar immer die Büßerfunktion. Als Corona aufkam, galt der Kampf einer sogenannten Hohlerde und ihrem teuflischen Bill Gates mit seiner Schwester Merkel, beides Kinder von olle Hitler, sagte man. Statistik und Mathematik waren nun Zahlenmystik und das Virus eine Erfindung der geheimen Weltdiktatur, um die Untertanen zu unterjochen. Dem war und ist bis heute nicht beizukommen, um wenigstens halbwegs auf den Krisencharakter des Kapitals, seinen Zirkulationsprinzipien und ihren Wechselwirkungen auf Mensch und Natur abzuheben.

Als Adorno von subjektiver und objektiver Vernunft sprach, um letztere zu erinnern, rief er nicht dazu auf, den Verstand an der Garderobe abzulegen. Solche esoterisch-spinnigen Verirrungen haben, folgt man der Kritischen Theorie, ihre tiefliegende Ursache in einer Zerissenheit des bürgerlichen Subjekts, das mit erfolgreicher Etablierung seiner Ordnung umso mehr einen Sinn in seiner neuen Wirklichkeit entbehrt:

[Bis ins 18. Jahrhundert hatten Nacht und Finsternis] nur die Schattenseite der Schöpfung markiert, das undurchdringliche Chaos vor Gottes erstem Wort ›Es werde Licht‹. Dort fehlte es an allem, was für den Kosmos selbstverständlich war: Plan, Ziel, Vorhersagbarkeit, Vernunft. Und eben solche Selbstverständlichkeiten gerieten mit den technischen, wirtschaftlichen und politischen Beben jener revolutionären Epoche mehr und mehr ins Wanken. Die Dunkelheit des Chaos griff aus dem Abseits ins Diesseits aus. […] Elegante Leser bei Kerzenlicht, schmachtende Mädchen und meditierende Mönche bei Mondschein gehören zum Stammpersonal des romantischen Stimmungsbildes. (M. Wullen, zit. nach G. Schweppenhäuser: Ästhetik, 2007)

Ähnliches lässt sich freilich auch vice versa verorten, wo ein teuflischer Putin den vorgeschobenen Platzhalter stellt, um sich nicht analytisch mit der Architektur der beteiligten Großmächte und ihrer materiellen Zirkulationssphäre, das heißt ihren wirklichen Zwängen auseinanderzusetzen.

Mir war die letzten Jahrzehnte es immer wichtig, wie hier dargelegt auf jene darunter liegenden Motive zu verweisen, um den problematischen zivilisatorischen Kern zu bergen, ihn begreifbar und damit greifbar, also angreifbar und gestaltbar zu machen. Das war es in etwa, was ich als meine linke, emanzipatorische Arbeit verstand. Spätestens zur Coronazeit hat man mir verdeutlicht, dass man viel zu sehr am Nebel hängt, um ihn zu lüften. Na dann …

Martin Walkyier soll gesagt haben:

Ich habe jahrelang versucht, gegen die Zerstörung der Welt anzusingen, ich kann einfach nicht mehr. Mittlerweile glaube ich, die Welt ist total abgefuckt und wird in zehn bis zwanzig Jahren in einem riesigen Pool aus Schleim untergehen. Wenn der Weltuntergang kommt, werde ich ihm ins Gesicht lachen!

Der rohe Ausdruck passt natürlich zu einem Heavy-Metal – Gott. Ich würde es anders formulieren: Ich kann mich inzwischen gut zurücklehnen und das Spektakel mit wohligem Schauder genießen. Als Narr unter Narren.

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