Rand und Band
Samstag, 27. Mai 2023

Als Landei kam mir die tägliche Fahrt im überfüllten Schulbus, die ich im Pulk mit anderen Kindern unternahm und die fast eine halbe Stunde dauerte, wie eine Reise in ein anderes Hoheitsgebiet vor. Von der Busstation bis zur Schule dauerte der Fußweg nochmals eine knappe Viertelstunde. Abfahrt des Busses 7:12, Beginn der 1. Stunde 7:50. Zeit zum Trödeln, dieser körperlichen Manifestierung der kindlichen Phantasie, gab es keine, und so setzte schon vor Unterrichtsbeginn der staatliche Auftrag ein, dem Sprössling die Flausen auszutreiben und zum nützlichen Faktotum zu erziehen.

Roger Willemsen, einer früheren Generation zugehörig, erzählte einst vom Spruch, den Väter an die Lehrer weitergegeben haben sollen: "Mir die Knochen, dir das Fleisch", das dem Lehrpersonal zugestand, Ungehorsam mit Prügel auszutreiben, dem Flegel die Knochen zu brechen aber dem Vater oblag. Meine Schulzeit in den 80ern war liberaler, dank der 68er, aber auch subtiler in Ausübung von Autorität. In den Pausen gab es unter den Schülern ständig Prügeleien um die Rangordnung, Schaukämpfe in der großen Pause, die im Kreis anfeuernder Mitschüler im Innenhof stattfanden und von Lehrern nur daraufhin beäugt wurden, dass sich keiner die Knochen brach, ansonsten aber gewährt wurden. Ich reagierte auf diese Kasernenhofmentalität (überhaupt alles Laute) sehr empfindlich.

Für mich begann die Zeit der Absonderung, da war ich dreizehn. Das weiß ich deshalb so genau, weil ich eines Wintertages im Schaufenster des nahegelegenen Kiosk ein Buch entdeckte, dem fortan meine ganze Aufmerksamkeit galt. Bis Weihnachten sollte ich jeden Tag mein Nase an der Scheibe platt drücken und dieses wundersame Buchcover mit dem Hologramm bestaunen. Mit Erspartem und dem Weihnachtsgeld meiner Oma wurde ich nach den Ferien stolzer Besitzer der "Dritten Macht", des 1. Perry Rhodan Silberbandes. Typisch für diese Zeit war in die Science-Fiction – Geschichte der Kalte Krieg verwoben und die Utopie der Beilegung allen Hasses zugunsten eines wertvolleren Miteinanders. Damit konnte ich persönlich etwas anfangen. Perry Rhodan machte mich zur Leseratte. Ich wurde zum Stammkunde der Stadtbücherei aber auch mehr und mehr zum Außenseiter meiner "Schulkaserne". Das stieß nicht auf Gegenliebe.

Die Zeit verging, die Zustände nicht. Inzwischen war ich zum Teenager gereift und interessierte mich neben all den seltsamen körperlichen Metamorphosen für die "Tenne", ein Plattenladen unweit der Schule, dem nachgesagt wurde, der coolste der Stadt zu sein. Also ging ich eines hellichten Tages hinein und betrat ein dunkles, gänzlich in schwarz gestrichenes Dielenzimmer, an dessen Wänden in alten Weinkisten die Schallplatten gereiht waren. Ich hatte keine Ahnung, nach welchen Kriterien die Platten geordnet waren. Der Besitzer, langhaarig und dürr, trat hinzu und fragte: "Du kommst klar?" – "Klar!" antwortete ich so cool ich konnte und hatte keinen Schimmer. Mir fiel sofort "The Wall" von Pink Floyd auf, das in Maueroptik bedruckte Doppelalbum, dessen Hülle die Wand zierte und aufgrund seiner weißen Farbe förmlich ins Auge sprang. Ich sah mir die cartoonesken Bilder darin an und die Gewalt, die sie karikierten. Ein weiteres Mal hatte ich den Eindruck einer Entdeckung, die mich ganz persönlich betraf. Die Scheiben waren richtig teuer, und ich kratzte alles Geld zusammen, das ich hatte. "Kann ich mal reinhören?", fragte ich, das Album über den Tresen reichend. "Nö, eingeschweißt. Ist aber gut. Pink Floyd, ne?" – "Klar!", sagte ich und kam mir dabei ziemlich cool vor.

Das Album war eine Reise. Je öfter ich es hörte, desto mehr bekam ich davon mit und desto mehr sprach es an, was mir auch in der Schule widerfuhr: "All in all it's just another brick in the wall." Die martialische Ästhetik der Abbildungen unterstrich und persiflierte gleichsam das Sujet: es geht um die Zusammenhänge von Autorität, Unterordnung, Hass, Krieg, Verzweiflung, Einsamkeit. The Wall reihte sich kurze Zeit darauf als Film zu einem der bedeutendsten Musical der 80er Jahre ein.

Ich habe die neuere Auseinandersetzung um Roger Waters nicht weiter verfolgt und kann dazu nichts sagen, nun aber habe ich in der tagesschau folgende Meldung entdeckt:

Die Berliner Polizei ermittelt gegen den Mitbegründer der Band Pink Floyd, Roger Waters. Es bestehe der Verdacht, dass auf seiner Kleidung bei einem Konzert am 17. Mai 2023 in Berlin antisemitische Elemente zu sehen gewesen sein sollen (www.tagesschau.de, 26.05. Archivversion)

Das wirkt sehr grotesk auf mich und scheint entweder von einem Ausbund kulturellen Analphabetentums zu zeugen oder hier meint jene altbekannte Kasernenhofmentalität sich abreagieren zu müssen. In beiden Fällen wäre das kein rühmliches Zeugnis dieser Zeit; eine Farce. "Just another brick in the wall"

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